Das Abtei-Haus zu Rulle einst und heute
Fast sechs Jahrhunderte lang hat das Zisterzienser-Nonnenkloster ¨Marienbrunn¨ zu Rulle bei Osnabrück bestanden. Fromme Frauen haben hier das Lob Gottes ¨bei Tage und auch in der Nacht¨ gesungen. Am 1. Dezember 1802 wurde in Rulle wie an allen Stifts- und Klostergebäuden im Fürstentum Osnabrück das Königlich Hannoversche Wappen zum Zeichen der Besitznahme befestigt. Im Laufe des Jahres 1803 ist das Klostergut vom Staat übernommen worden. Wer heute nach Rulle kommt und bei der Kirche das Kloster sucht, findet nicht mehr viel. Die Gesamtanlage ist zerstört. Es blieben nur einzelne Gebäude der alten Abtei erhalten.
Die Klosterkirche, die frühere ¨Juffernkirche¨, wurde 1927/28 beim Umbau vergrößert und mit der ,, Kirchspielkirche“ – heute Gnadenkapelle – unter einem gemeinsamen Dach zur Wallfahrtskirche vereinigt. Quer zu den beiden Kirchenschiffen liegt westlich seit der Mitte des 14. Jahrhunderts das einstige ¨Kapitelhaus¨, ein für den Konvent sehr wichtiges Gebäude. Dieses Kapitelhaus ist jetzt ein Raum für Gottesdienste. Durch den ihm vorgelagerten Turm betritt man den gesamten Kirchenkomplex. Der alte Brunnen, der bei der Verlegung des Konventes von Haste nach Rulle dem neuen Kloster den heute fast vergessenen Namen ¨Marienbrunn¨ gegeben hat, erhielt 1928 einen kapellenartigen Umbau. Sein Wasser ist klar und ungetrübt wie schon in vorklösterlicher Zeit. Dann gibt es noch einige alte Wirtschaftsgebäude. Sie sind zwar umgebaut, aber die Balkeninschriften weisen in die Vergangenheit. Nordwestlich von der Kirche findet der Besucher ein langgestrecktes, einstöckiges Haus mit Satteldach: die einstige Residenz der Äbtissinnen des Klosters Rulle. Als ¨Haus Maria Frieden¨ kennen es seit 1957 die Einwohner von Rulle, die Osnabrücker und die Wallfahrer, kennt es vor allem die Jugend des Bistums. Sie kommt nach hier zu Gruppenleiterschulungen und zu Kursen außerschulischer Bildungsarbeit. Der Kirche abgewandt sind die beiden Eingänge dieses Hauses. Über dem Hauptportal ist – auch nach dem letzten Umbau noch – ein dreiteiliges barockes Schmuckwerk zu sehen. Im oberen Medaillon findet der Betrachter das Ruller Klosterwappen. Maria, mit der Krone geschmückt, sitzt auf der vorderen Kante einer viereckigen Brunneneinfassung. Ihre linke Hand umfaßt den ebenfalls gekrönten Jesusknaben, der die Weltkugel trägt. Die Mutter streckt den rechten Arm fast waagerecht aus, die rechte Hand hält einen dicht belaubten Zweig, vielleicht soll es auch ein Bäumchen sein.
Diese Armhaltung und der grünende Zweig waren charakteristisch für Wappen und Siegel des Zisterziensterordens. Überdies ist Maria die besondere Patronin des Ordens. Zuerst war es nur üblich, dann wurde durch Bestimmung festgelegt: alle Klöster der Zisterzienser sind der Mutter des Herrn zu weihen. Das Kloster- oder Abteiwappen ruht auf zwei nebeneinanderstehenden ovalen Holztafeln. Ihre lateinischen Inschriften sind nicht leicht lesbar. Nicht nur blättert hier und da die Farbe ab, der Text enthält auch Abkürzungen, die zur Zeit des Barock üblich waren, als das Äbtissinnenhaus gebaut wurde. Die Tafeln scheinen beim großen Umbau der Kirche und der Gebäude im Kirchenbezirk renoviert worden zu sein. Der Handwerker aber ist des Schreibens eines lateinischen Textes unkundig gewesen, und gewiß waren die Buchstaben auch verwittert. So hat er sie ungelenk und nicht ohne Fehler nachgezogen. Die Übersetzung lautet:
Dieses Gebäude ist
von der sehr ehrwürdigen und edlen
Anna Barbara von Scharbe
Äbtissin
angefangen
und
unter der Leitung
der Anna Magall Clevorn
der sehr ehrwürdigen und edlen
Äbtissin
vollendet
worden
Unter beiden Schrifttafeln ist das dritte kleinere, ebenfalls ovale Feld rechts und links so reich mit barocken Blattornamenten verziert, daß diese über die oberen Tafeln seitlich hinausragen und als Unterbau für den dreiteiligen Türschmuck dienen. Der lateinische Text auf der kleinen Tafel enthält eine Besonderheit: mitten in den einzelnen Wörtern werden Buchstaben groß geschrieben. Jeder Großbuchstabe bedeutet eine römische Ziffer, ausgenommen der Anfangsbuchstabe. So zeigt sich uns die Inschrift:
TU o Marla protege
ac
CVstoDI
Die Übersetzung dieser Bitte an die Ordenspatronin lautet:
Du, o Maria, beschütze
und
bewahre es
Zählt man die Großbuchstaben zusammen, ergibt sich die Zahl 1712, das Jahr, in dem das Abteihaus fertig geworden ist. Das Zeitalter des Barock liebte solche Chronogramme, solche kunstvollen ¨Zeitinschriften¨.
Es ist ungewöhnlich, ein Ornament für die Außenfront eines Gebäudes aus Holz zu fertigen, sie sind der Verwitterung zu sehr ausgesetzt. Vielleicht aber waren bis zum Umbau die Tafeln in einer Nische geschützt. Anlaß zu dieser Vermutung ist die flache Vertiefung, in der heute noch das Schmuckwerk sitzt. Es ist jedoch auch denkbar, daß dem Kloster nach der Fertigstellung des Hauses der Sandstein für den Türschmuck zu teuer gewesen ist.
Die Namen von zwei Äbtissinnen erfährt der Besucher aus diesen Tafeln: Anna Barbara von Scharbe und Anna Magell (Magdalena) von Clevorn. Über Anna Barbara von Scharbe kann der Chronist nur wenig berichten. Im Fürstentum Osnabrück ist ihre Familie nicht ansässig gewesen, vermutlich kam die Äbtissin aus dem ¨Ausland¨. Regiert hat sie nur vier Jahre, von 1700-1704. In diesen wenigen Jahren hat die ¨Hochadliche und gnädige Frau … die sehr wertige Abtißin dieses orts … das neue und herrliche gebäu anlegen und aufziehen laßen, wozu sie nicht allein fleiß und mühe, sondern auch ihr geldt angewendet hat….¨
Dieser lobende Zusatz im Totenbuch des Klosters verwundert uns heute, da Klosterfrauen und Mönche kein persönliches Eigentum besitzen dürfen. Er wird aber verständlich, wenn man erfährt, daß gerade das Armutsideal in den Klöstern seit langem gering geachtet wurde. Wie in anderen Abteien nahmen auch die Nonnen zu Rulle Geschenke und Geld von Verwandten und Freunden. Mit Genehmigung der Äbtissin verfügten sie darüber nach Gutdünken. Und so hat auch Frau von Scharbe mit eigenem Vermögen den Bau ihrer Residenz finanziert. Dabei wäre der Bau eines neuen Schwesternhauses nötiger gewesen, denn dieses war eng, baufällig und hatte ein ¨ruiniertes Dach¨.
Die Eintragung im Totenbuch und die lnschrifttafeln sind einige der wenigen Hinweise auf Äbtissin von Scharbe. Wenn auch keine Akten oder gar Pläne über den Bau des Äbtissinnenhauses bekannt sind, so ergeben sich doch aus den engen Verbindungen zwischen dem ¨adlichen Jungfrauen Kloster Rulle, Fons Mariae genandt¨, und dem wohlhabenden und bedeutenden Zisterzienser – Mönchskloster Marienfeld im heutigen Kreis Warendorf einige Rückschlüsse auf die Bautätigkeit in Rulle zu Anfang des 18. Jahrhunderts. Seit etwa 1600 übte wieder der jeweilige Abt von Marienfeld als Visitator im Auftrage des Ordens die Aufsicht über das Nonnenkloster aus. Als Vaterabt kümmerte er sich um das geistliche und wirtschaftliche Wohl der ihm Anvertrauten. Immer wirkte einer seiner Mönche als Confessarius, als Beichtvater, in Rulle. Auch den Pastor für die Kirchengemeinde stellte die Abtei Marienfeld.
Zur Zeit der Äbtissin von Scharbe regierte der baufreudige Abt Cuelman (oder Culemann). Er hatte 1699 mit dem Bau eines neuen Abteihauses begonnen. Angeregt durch diese lebhafte Bautätigkeit, beschloß auch die Äbtissin, ein Haus für die Ruller Klostervorsteherin zu bauen. Abt Cuelman gab nicht nur dazu seine Erlaubnis, er hat wohl auch die Äbtissin mit manch guten Ratschlägen und wichtigen Hinweisen unterstützt. Bevor aber mit dem Bau begonnen wurde, mußten ein kleines Haus und eine Mauer mit rundbogigem Durchgang zum inneren Klosterhof abgerissen werden.
Das Zeitalter des Barock war eine recht prachtliebende Zeit, aber das Haus für die Ruller Äbtissin wurde wesentlich bescheidener als der Abteibau, den Abt Cuelman errichten ließ. Und doch sind das Vorbild und der Einfluß Marienfelds unverkennbar. Hier wie dort führt eine Freitreppe zum Haupteingang hinauf. Hängt über dem rundbogigen Portal zur Marienfelder Abtei das Wappen des Erbauers, so ist es in Rulle das Klosterwappen. Sicherlich hat der Konvent sich nicht aus Bescheidenheit dafür entschieden. Da jedoch die Bauherrin inzwischen verstorben war, ging es nicht an, ihr Familienwappen anzubringen. Abt Cuelman hat über seinem Wappen eine Marienstatue aufstellen lassen, in Rulle stand in der oberen Nische unter dem Mittelgiebel die Figur St. Bernhards, in der Linken ein Lattenkreuz, in der Rechten einen Stab haltend. Die Inschrift auf der darunterhängenden Tafel bat um den Schutz der Ordensheiligen. Das Chronogramm ergab wiederum die Jahreszahl 1712.
Seit den fünfziger Jahren ist die Nische leer. Statue und Tafel wurden renoviert und hängen jetzt im unteren Teil der Wallfahrtskirche, der (früher Klosterkirche gewesen ist. Leider hat man St. Bernhard die bei den Zisterziensern üblichen Symbole nicht wieder beigegeben, sondern sie durch Buch, Abtstab und zwei Leidenswerkzeuge ersetzt.
Wie die Kirche und die Gebäudegruppe rundherum, ist auch die Residenz der Äbtissin aus Piesberger Bruchstein gebaut worden. Davon ist nichts mehr zu sehen, alles ist verputzt. Uns erscheint das Abtei-Haus unverhältnismäßig groß für die Vorsteherin eines Konvents, dessen Höchstzahl an Nonnen seit der Gründung des Klosters durch den im Orden üblichen ¨numerus clausus¨ festgelegt war. Durchschnittlich hat der Ruller Konvent aus 8-10 Konventualinnen bestanden. Man sollte aber bedenken, daß Zimmer für Gäste und die ¨paterey¨ sich auch in diesem Neubau befunden haben. Außerdem zog sich über das ganze Haus der Kornboden hin. Hier lagerte das Getreide, das die dem Kloster Ruhe eigenbehörigen Bauern zu bestimmten Zeiten abzuliefern hatten. Hinzu kommt, daß das 18. Jahrhundert gern groß und weiträumig baute, daß man auf Repräsentation bedacht war – auch als Domina in einem Orden, der einst Aufstieg und Einfluß als ¨bedeutendster der Christenheit¨ seiner asketischen Strenge und Einfachheit verdankt hatte. Das Abtei-Haus war noch nicht fertig, als Anna Barbara von Scharbe nach nur vierjähriger Amtszeit starb. Im folgenden Jahr verstarb auch Abt Cuelman. Der Ruller Konvent geriet durch den Tod seiner Abbatissa in arge Bedrängnis, fand sich doch in den eigenen Reihen keine Nachfolgerin. Warum die Nonnen nicht, wie oft üblich, ihre derzeitige Priorin Frau Maria Anna von Zurmühlen zur Äbtissin gewählt haben, ist nicht überliefert. Neue Herrin der Abtei Rulle wurde Hedwig Sydonie von Schwencke, postuliert aus dem nicht weit entfernten und befreundeten Kloster Bersenbrück. Wer hat nun den Bau, der durch den Tod der Äbtissin von Scharbe unterbrochen wurde, weitergeführt? In dem grundlegenden Werk von Mithof ¨Kunstdenkmale und Alterthümer im Hannoverschen¨ Band IV, Seite 149, zitiert der Verfasser im Jahre 1879 die Inschrift über dem Eingang der ¨Äbtissin-Wohnung¨ so: ¨… unter der Herrschaft der neuen ehrwürdigen und edlen Domina Sydonie von Schwencke vollendet… ¨ Zwar stimmt es, daß das Haus während der Regierungszeit der Frau von Schwencke fertig geworden ist, aber die Bauleitung hat in den Händen der Anna Magell von Clevorn gelegen. Das zeigt die Photographie, das beweist auch das Quellenmaterial.
Frau von Clevorn, Vorgängerin der Äbtissin von Scharbe, hatte im Jahre 1700 freiwillig auf ihr Amt verzichtet. Sie scheint aber, als der Konvent wegen der Fortführung des Baues in Schwierigkeiten geriet, noch so tatkräftig gewesen zu sein, daß sie sich um die Fortführung kümmern konnte. Auch unter der neuen Äbtissin Domina von Schwencke behielt sie dieses Amt.
Wohlwollen und Unterstützung konnten die amtierende Äbtissin und Frau von Clevorn von dem neuen Vaterabt aus Marienfeld erwarten, denn Johannes Rulle hatte als Beichtvater manches Jahr in der Abtei Marienbrunn gewirkt. So kannte er die Baupläne und die örtlichen Verhältnisse. Abt Rulle war ebenso baufreudig wie sein Vorgänger.
Im Jahre 1712 ist das Abtei-Haus fertig geworden. Es darf als sicher angenommen werden, daß – nach Zisterzienserbrauch – Abt Johannes Rulle zur feierlichen Einsegnung des neuen Amtssitzes nach Rulle gekommen ist. Nach den vorhandenen Quellen hat Abt Johannes zur Einweihung oder kurz danach für die Klosterkirche einen Seitenaltar gestiftet. Rechts vom Hochaltar, nahe der Sakristeitür. fand dieser seinen Platz.
Das neue Haus bildete mit den schon vorhandenen Klostergebäuden – wie aus den Unterlagen zu ersehen ist – ein offenes Viereck. Zwischen dem Turm der Kirche und dem Ostgiebel des Äbtissinnenhofes lag der innere Klosterhof, abgeschlossen durch eine Mauer. Der Ausgang zum Innenhof ist eine hohe, ziemlich breite Tür, eingefaßt mit Sandstein. Aus dem leicht geschwungenen Türbogen ragt in der Mitte ein Stein heraus, auf dem eingemeißelt und spielerisch ineinander verschlungene Linien die fünf Buchstaben des Namens Maria bilden. Wenn die Glocke zum Gebet läutete, schritt die Äbtissin über den Innenhof zum Schwesternhaus. Von dort aus stieg sie zum Chor der Klosterkirche empor.
Innenhof mit Kirche und Klostergebäude nach einer Abbildung auf einem Wallfahrtszettel nach 1712
Zeichnung: Johannes Lorenz
Dort, wo heute auf dem großen freien Platz die Autos und Busse parken, erstreckte sich bis 1800 der umzäunte äußere Klosterhof. Hier rollten durch den Torweg des Pfortenhauses die Kutschen der Gäste vor, hier übergaben die Besucher ihre Pferde den Stallknechten, und von hier betrat man die Residenz der Äbtissin von Rulle.
Frau von Schwencke hat als erste Äbtissin, noch nicht 40 Jahre alt, den neuen Amtssitz bezogen. Hier, im großen Saal mit den etwa 4 Meter hohen Wänden, empfing sie bei jeder Visitation den Abt von Marienfeld und seine Begleiter, auswärtige Gäste und vornehmen Besuch. Der Saal hat die ganze Tiefe des Hauses eingenommen von der Vorderfront bis zur Rückseite. Seine Fensternischen lassen noch erkennen, wie breit und fest die Außenwände gebaut sind. In diesem wohl prächtigsten Raum ihres Hauses ließ die Abbatissa die Tafel richten, und es sind gewiß keine einfachen Gerichte gewesen, die sie hat auftischen lassen. Auch in diesem Punkt hatten sich die Klöster damals weit vom Armutsideal entfernt. Der westlich gelegene Wohnflügel des Abtei-Hauses war unterkellert. Hier hat die Äbtissin wohl ihren Weinkeller gehabt, wie dies auch aus anderen Abteien bezeugt ist.
Schon seit dem späten 16. Jahrhundert hören wir von Marienfelder Äbten, die nur noch an Feiertagen am gemeinsamen Tisch des Konventes teilnahmen. Meist speisten sie mit ihren Gästen im Abtei-Haus. Auch dieses haben die Äbtissinnen von Rulle zum Vorbild genommen. Sie führten einen eigenen Haushalt und besaßen Dienstmägde zu ihrer Bedienung.
¨… wenn ein Verwandter oder Freund eine Klosterfrau besuchen oder sprechen will, so geschieht solches auf der Abtey in gegenwarth der Abtißin…¨ Und da sich neben dem Saal eine ¨Fremdenkammer¨ befand, übernachteten diese. Besucher im Äbtissinnenhaus. Die kleine Wohnung des Pastors lag ganz am östlichen Ende, und ¨… die Abtißin, Kellnerin, der Amtmann, Pastor und Confessarius speisen auf der Abtey, doch wird für keine Taffel besonders gekocht, sondern alle genießen einerley von einer Köchin bittere speisen…¨ So steht es in einem Bericht aus dem Jahre 1787.
Westlich vom Amtssitz hatten sich die Äbtissinnen einen Abteigarten anlegen lassen. Er reichte bis hinunter an die Ruller Flut und ist wohl nur ihnen vorbehalten gewesen. Hedwig Sydonie von Schwencke hatte der Abtei 22 Jahre vorgestanden, als sie am 8. August 1726 starb. Wie ihre Vorgängerinnen fand sie im Kapitelhaus ihre letzte Ruhestätte. Den Grabstein aber findet man nicht mehr am alten Platz. Aufgerichtet steht er an der nördlichen Seite des Turmes. Das umlaufend Schriftband gibt die Lebensdaten an. Das zweiteilige Wappenbild in der Mitte der Grabplatte zeigt links das väterliche Wappen mit dem schreitenden Löwen. Die mütterliche Familie von Nagel trägt im Wappen einen Nagel, umgeben von einem mit Lilien besteckten Ring. Die Familie von Schwencke, jetzt ausgestorben, gehörte zur Burgmannschaft der Fresenburg im Emsland, die von Nagel zum Osnabrücker Adel. Am 27. August 1726 ist Abt Ferdinand Oesterhoff zur Wahl einer neuen Klostervorsteherin nach Rulle gekommen. Die Konventualinnen wählten ihre Mitschwester Maria Anna lsabella von Hövell. Nach der Benediktion geleiteten der Abt und seine Begleiter, der Confessarius P. Joseph Moll, der Pastor und der Konvent, die Gewählte zum Äbtissinnenhaus. Abt Ferdinand löste das Siegel der verstorbenen Äbtissin von der verschlossenen Tür. Er zerbrach es, und die neue Herrin nahm Besitz von ihrer Residenz. Im Pfarrhaus zu Rul Je hängt das Ölbild dieser Äbtissin. Fünf Äbtissinnen haben seit 1712 im Abteihaus gewohnt:
Hewdig Sydonie von Schwencke 1712 – 1726
Maria Anna Isabella von Hövell 1726 – 1763
Eleonora von Honstedt ex Rheten 1763 – 1776
Anna Lucia von Reusch ex Rastede 1776 – 1786
Hedwig von Walthausen 1786 – 1802
Frau von Walthausen war die 16. Äbtissin nach der einschneidenden Klosterreform um das Jahr 1480 und – nach dem Stand der bisherigen Ermittlungen – die 25. oder 26. seit der Gründung der Abtei im Jahre 1232. Ein Jahr nach dem Amtsantritt dieser Äbtissin wurde der Bersenbrücker Konvent aufgehoben. Sophie Charlotte, leibliche Schwester der Frau von Walthausen, siedelte über nach Rulle und blieb hier bis zur Auflösung. Ob sie im Abtei-Haus oder im Konventsgebäude gewohnt hat, ist nicht überliefert. ¨Die Abtey … ist der Äbtissin auf ihre Lebenszeit zur Wohnung eingeräumt…¨ Im Jahre 1820 zog Frau von Walthausen nach Hagen, ¨… sie hat sich aber ihre Räume ausdrücklich reserviert, um sie bey veränderten Umständen wieder beziehen zu können¨.
Der damalige Pastor Marx, Mönch aus dem ebenfalls aufgehobenen Kloster Marienfeld blieb als Pfarrer in Rulle. ¨Nach der … Aufhebung des Klosters ist … die Wohnung des Pastors durch einen Theil des Abteyflügels vergrößert … bis dahin, wo die Scheidewand des großen Saales und der daneben liegenden Fremdenkammer steht…¨ Pastor Marx fing sogleich die Ausbauung und die gänzliche Umgestaltung der neuen Pfarrwohnung an …¨, wie das für die Führung einer eigenen Haushaltung nötig geworden war. 170 Jahre lang, von 1803 bis 1973, haben im westlichen Trakt des ehemaligen Abtei-Hauses die Wohn- und Amtsräume des Pfarrers von Rulle gelegen.
1856 war nach jahrelangen Schwierigkeiten im westlichen Flügel, in einem Teil der früheren Äbtissinnenwohnung, die Kaplanei fertig geworden. Dem Pastor war schon ¨… etwas Gartenland im Abtey-Garten beygegeben …¨ ,jetzt erhielt auch der Kaplan ¨… einen Theil des Gartens …¨ zugewiesen. Bis zum Jahre 1953 haben hier die Ruller Kapläne gewohnt. Seit 1973 hat die Kirchengemeinde ein neues Pastorat. Hier wohnen jetzt beide Pfarrgeistliche.
¨Alle Räume, die nicht … zur Pfarrwohnung abgetreten und nicht der Kirchengemeinde … zur Kaplaneiwohnung mietweise überlassen …¨ wurden, haben ihre Bewohner oft gewechselt. Bis 1856 an die Witwe des Försters Ostendorf vermietet, zog danach der Förster Huisking hier ein. Vor etwa 100 Jahren kaufte die Gemeinde Rulle das ¨frühere Abteygebäude nebst den unmittelbar daran liegenden Gründen zu Kirchen- und Schulzwecken¨ von der Königlichen Klosterkammer Hannover zurück. Fast 11 Jahre lang hatten sich die zähen Verhandlungen um die Kaufsumme hingezogen. Der neugegründete ¨Kirchen- und Schulvorstand¨ genehmigte dem Förster die ¨Durchscherung¨ des Saales, ¨um in ein paar Schlafkammern die heranwachsende zahlreiche Familie placieren zu können…¨ Im Jahre 1888 wurde das Dach neu gedeckt und Schäden am Gebälk ausgebessert. Nacheinander haben zwei Försterfamilien im ¨vorderen Klostergebäude¨ gewohnt. In dieser Zeit haben sich nicht nur das Innere des Hauses, sondern auch die ganze Umgebung stark verändert. Aus dem äußeren Klosterhof war ein Weideplatz geworden.
Als die Revierförsterei gebaut worden war, zogen die einklassige Schule und ihr Lehrer in die frei gewordenen Räume. Als diese nicht mehr ausreichten, bekam Rulle ein neues Schulgebäude. In den wieder einmal geräumten Westtrakt des Hauses zog 1957 das ¨Bischöfliche Jugendhaus¨. Es erhielt den Namen ¨Maria Frieden¨. Im Jahre 1973 begann der Umbau, nachdem die Pfarrgeistlichen ausgezogen waren. Äußerlich ist das Gebäude nicht verändert worden; es steht unter Denkmalschutz. Innen sind die Fachwerkwände durch Mauern ersetzt, die sehr schön mit warmrotem Klinker belegt sind. Das ganz Haus ist jetzt unterkellert und hat damit viel Platz gewonnen.
Vor dem ersten Weltkrieg hätten die Franziskaner gern die Ruller Kirche und das ganze Kirchengelände mit allen Gebäuden gekauft. Eine neue Pfarrkirche sollte für die Gemeinde gegenüber der Gastwirtschaft Lingemann an der Straße Rulle-Icker gebaut werden. Der Plan aber scheiterte, weil der Besitzer das dafür vorgesehene Grundstück nicht verkaufen wollte. Die Franziskaner ließen sich daraufhin in Ohrbeck nieder. Sechs Jahrhunderte lang ist über die Klostermauern hinweg mancher Impuls ausgegangen zu den Menschen im Dorf und zu denen, die als Wallfahrer hierher gekommen waren. So, wie die Abtei einst Mittelpunkt klösterlichen Lebens gewesen ist, so will jetzt das Haus der letzten fünf Ruller Äbtissinnen als Bildungsstätte neuer Mittelpunkt werden für die junge Generation unserer Tage. Für dieses alte-neue Haus möge der Wahlspruch der Zisterzienser gelten:
„Das Tor ist offen, das Herz um so mehr“